Luke Pearsons „Hilda und der Mitternachtsriese“ gehört zu der neuen bei Reprodukt begonnenen Reihe von Kindercomics, die ab März 2013 erscheinen und über eine eigene website vorgestellt werden – www.kindercomics.info . „Comics werden wieder Kinderkram!“ ist witziger Weise das Motto der neuen Reihe, und dieser Wunsch enthält im Grunde ein Stück Rezeptionsgeschichte der Comics in nuce. Man denke an die Vorurteile gegenüber Comics, die insbesondere in Deutschland seit den Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu überwinden waren, bis Comics als Literatur für Erwachsene anerkannt wurden. Die Zielgruppe Kind wurde indes lange Zeit – unbemerkt – innerhalb des Segmentes der hochwertigen, kunstvoll gestalteten Comics wenig berücksichtigt. Dieser Irrweg soll nun also verlassen und „für Kinder ab drei Jahren wie auch […] für Erstleser ab sechs Jahren inhaltlich und gestalterisch auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnitten“ (Verlagsprospekt Reprodukt) vor allem Freude am Comiclesen ermöglicht werden. Dass dies auch Erwachsenen gefallen wird, ist klar.
„Hilda und der Mitternachtsriese“ ist eine spannende Geschichte von überschaubarer Länge (44 Seiten), der gut gestaltete Hardcoverband ist mit 18 € auf der Höhe guter Kinderbücher angesiedelt.
Hilda lebt mit ihrer Mutter in der Abgeschiedenheit einer gebirgigen Gegend, in vermeintlicher Einsamkeit. Unsichtbar für die Bewohner des kleinen Hauses befindet sich nämlich vor der Tür ein von handlosen kleinen Wesen dicht besiedeltes Gebiet, das über regierende Bürgermeister, Premierminister und einen König verfügt. Es entfaltet sich ein der kindlichen Wahrnehmung sehr entgegenkommendes Geschehen, dass sich letztlich um die Unterschiede und die Relativierung von Groß und Klein, akzeptierter und nicht akzeptierter Lebensform, moralischem Recht und Unrecht, aber auch von Geduld, genau Hinsehen und Umdenken dreht. Dabei bleibt die Geschichte aber immer unterhaltend, ja spannend. Dies ist nicht nur dem plot, sondern besonders den detailreichen Bildern Pearsons geschuldet.
Manche Figuren in der Geschichte kommen mir vor wie Wesen aus kindlichen Fieberträumen und dies scheint ein sehr wichtiger Aspekt dieses Comicbuches zu sein. Identifikation, Wiedererkennen, Übertragen und Sich Freuen werden einfach in diesem Band, der kindliche Ängste und Bewältigungsphantasien gleichermaßen aufgreift und sichtbar macht.
Aus mancherlei Gründen sollten Hilda und ihre Mutter eigentlich aus der Einsamkeit in die Stadt ziehen, eine Option, die Hilda – man sieht es den ausdrucksvoll gezeichneten Augen der kleinen Heldin an – ganz schrecklich findet. So nimmt sie erst einmal den Kampf gegen die unsichtbaren kleinen Wesen auf, die Hilda und ihre Mutter aus ihrem Land entfernen und am liebsten deren Haus zerstören wollen. Mit Hilfe eines der Winzlinge lernt sie die Umgebung und ihre Bewohner zu sehen und verhandelt geschickt um ein Bleiberecht im Tal. Zunächst parallel dazu angelegt ist die Geschichte ihrer Begegnungen mit dem Riesen Jorgen, ein zunächst etwas erschreckendes Wesen von phallischer Form, das im Gegensatz zu Holzkugelmännchen und fliegenden Wollknäueln nicht gleich als in die Lebenswelt integrierbar betrachtet wird. Durch Gespräche mit dem nur zur Mitternacht auftauchenden, schüchternen Riesen und durch die Lektüre eines Geschichtsbuches, das dessen Schicksal aufklärt, wird er jedoch zu einem hilfsbedürftigen Freund, dessen Geschichte sich überraschend zum Guten wendet und gleichzeitig zur Auflösung der Probleme Hildas und ihrer Mutter führt – wobei „Auflösung“ hier sehr wörtlich zu verstehen ist… Auf weitere Folgen darf man gespannt sein, denn nun wird Hilda in dieStadt ziehen und ein neues Kapitel ihres Lebens aufschlagen.
Der britische Zeichner und Illustrator Luke Pearson bezeichnet sich auf seiner website www.lukepearson.com als „writer and artist of the all-ages Hilda series of comics […]“ und stellt zwei weitere Hilda-Folgen („Hilda Folks“ und „Hilda and the Bird Parade“) vor, die auf Deutsch zu publizieren sich der Reproduktverlag vorgenommen hat. Weitere interessante Graphic Novels und Illustrationen sind auf Pearsons Seite zu sehen, die man einfach mal besuchen sollte, wenngleich auch lieber ohne Kinder. In twitter findet man den Zeichner unter @thatlukeperson . Dem Reprodukt – Prospekt über die Kindercomics entnehme ich, dass Pearson für „Hilda und der Mitternachtsriese“ 2012 bei den British Comic Awards als Bester Kindercomic ausgezeichnet wurde.
„Hilda und der Mitternachtsriese“ ist ein sehr schöner Comic, den man wieder und wieder lesen und betrachten kann, da sich immer wieder neue Sichtweisen auftun und die vorkommenden Wesen sehr liebenswert und lebendig gezeichnet sind.
Leseprobe via Verlagswebsite: http://www.reprodukt.com/product_info.php?products_id=467 .